Fotos: Mateusz Dworczyk & Paul Dorobisz
Was haben ein seltsames digitales humanoides Wesen und die Vermessung des öffentlichen Raumes mittels eines Körpers gemeinsam? Obwohl die Herangehensweisen und Ergebnisse der Künstler nicht unterschiedlicher sein könnten, sind beide Positionen von einem Interesse an der Repräsentation des Körpers und seiner Spuren in ihren jeweiligen Medien angetrieben. Der Ausstellungstitel leitet sich aus dieser Verbindung ab, schöpft aus der Fülle der Wortbedeutungen, die durch Wortspiele entstehen, und gibt gleichzeitig Einblick in das zugrunde liegende kuratorische Konzept. Die Präfixe an und ab spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie den Kern der ausgestellten Arbeiten berühren, die auf ihre eigene Weise das Thema der An- und Abwesenheit des menschlichen Körpers behandeln. Der Wortstamm wesend ist hingegen eine Referenz auf die Frage des Wesentlichen: die Existenz, den Standort, die Dauer, Persönlichkeit und Identität eines Körpers.
Anwesenheit in Abwesenheit.
Zwischen den Zuständen von Ab- und Anwesenheit liegt ein Spannungsverhältnis. Gleichzeitig können wir so etwas wie Anwesenheit in Abwesenheit erfahren. Das analoge fotografische Bild ist mit seiner Indexikalität hierfür ein gutes Beispiel(2) oder die bei der Aufbahrung angefertigte Totenmaske. Ein digitales oder computergeneriertes Bild ist hingegen nur noch eine Behauptung, fast genau wie ein Grabstein, auf dem Hier Liegt geschrieben steht. Diese Behauptung ist zwar überprüfbar, jedoch fehlt hier eine direkte Verbindung.(3) Was bleibt, ist die Repräsentation in diversen Medien, die mit der Wirklichkeit viel zu vorschnell gleichgesetzt wird. An dieser Stelle treten Künstler:innen auf den Plan, die durch unterschiedliche Herangehensweisen mit diesem Umstand zu spielen beginnen, ihn hinterfragen, dekonstruieren oder neu zu denken versuchen.
Philip J. Sampson zufolge erreicht die Postmoderne ihren Höhepunkt »[...] im Verlust der Grenze zwischen der Körperrepräsentation und der Körperwirklichkeit.« (4) Die verschwimmende Grenze
zwischen der Körperrepräsentation und seiner Wirklichkeit werde unter anderem anhand des vermarktbaren Körpers in unterschiedlichen Medienbildern thematisiert. Im Gegensatz zu der Moderne, in
welcher der Körper tief mit der Wirklichkeit verbunden war, zeige sich der postmoderne Körper als Oberfläche entlang der technologischen Möglichkeiten diesen zu reproduzieren, zu
vervielfältigen und nach eigenem dem Wunsch oder den Anforderungen des Marktes zu präsentieren beziehungsweise zu vermarkten.(5) Die diskursive Praxis sowie die symbolische Repräsentation
seien im postmodernem Denken, wie Sampson mit der Theorie Butlers und Foucaults andeutet, konstitutiv für den Körper, der als kulturelles Artefakt und als performatives, sich selbst
produzierendes Objekt begriffen wird.(6) In der Postmoderne wird der Körper und sein Bild zu einer formbaren Entität, seine Stellung als natürliches Objekt wird zu Recht in Bezug auf
kulturelle, wissenschaftliche, politische oder ökonomische Faktoren untersucht und hinterfragt. Die zeitgenössichen Körperbilder müssen dementsprechend als soziotechnisch konstruierte Bilder
verstanden werden, denn »[d]ie Informationstechnologie hat unsere täglichen Körpererfahrungen verändert und verkörpert nicht mehr die großen Themen der Moderne, z. B. die der Schönheit und
der Wahrheit, sondern sie fragmentiert sie in vielfältigen Systemen der Erscheinung und des Stils.« (7) So sieht Sampson in den 1980er-Jahren eine Wiederentdeckung des Körpers in Hoch- und
Populärkultur: In den bildenden Künste als Ausstellungsstück, in kinematografischen Werken als das Fleischliche, Verstümmelte oder Verunstaltete und nicht zuletzt in den Unterhaltungsmedien
als Konsumobjekt, beispielsweise im Zusammenhang mit der Fitnesskultur.(8) Genau auf dieser inhaltlichen Ebene kann die Arbeit »Procedural Incarnation« (2023) betrachtet werden. Dabei geht es
hier nicht nur um die Möglichkeit der Reproduktion und Distribution, sondern um die technologischen Möglichkeiten der Produktion von Körperbildern. Die neuen Werkzeuge, wie künstliche
Intelligenz und dreidimensionale Simulationen, sind eine Ergänzung der medialen Landschaft und zugleich eine Herausforderung für das Medium Fotografie. Echtzeitanwendungen aus dem Bereich der
Spiele wie metahuman von epicgames (9) zeigen bereits einfache und niederschwellige Wege zur erstellung von menschlichen Körpern und Identitäten. Der Ansatz von epicgames basiert rein auf
statistischen Variationen, um das Aussehen des menschlichen Körpers zu beschreiben und ihm Bedeutung zu verleihen. Die künstlich geschaffenen Körper sind jedoch kein Alleinstellungsmerkmal
des heutigen Computerspiels. Sie finden sich in sozio-technischen Netzwerken, in Filmen, in Musikvideos oder in Zeitschriften wieder. Dabei werden sie als Kunstkörper hervorgehoben oder
reihen sich ganz in andere konventionelle Darstellungsformen ein. Genau diese Phänomene und Entwicklungen werden in der Arbeit aufgegriffen und gleichzeitig unterwandert, indem auf
normativ-organische Organisation und Repräsentation des menschlichen Körpers verzichtet wird. Von der Vermessung mit zur Vermessung von. In »Beyond Measure« beobachtet James Vincent treffend,
dass Maße eine nicht unbedeutende Rolle in unserem menschlichen Leben spielen. Sie sind in vielen Lebensbereichen eine grundlegende Definitions- und Vergleichsgrundlage, die nicht nur die
Künste und Wissenschaft prägt, sondern auch den Menschen, seine Wahrnehmung und sein soziales Umfeld.(10) Es dürfte ziemlich unumstritten sein: Maße und die Vermessung an sich sind eine
anthropologische Konstante. Die Messtechniken und Maßeinheiten sind kulturgeschichtlich betrachtet allerdings alles andere als konstant. An dieser Stelle kommt auch der Körper ins Spiel:
Menschen- aber auch Tierkörper waren eine der ersten Messwerkzeuge überhaupt.(11) Die Abkehr vom Körper als Ausgangspunkt für die Vermessung der Welt war die Folge der Abkehr von feudalen
Machtstrukturen und das Resultat der Aufklärung. Das metrische Einheitensystem ist, wie Vincent mit Hobsbawm heranführt, »the most lasting and universal consequence of the French
revolution«.(12) Es ist allerdings töricht zu glauben, dass ein globales Einheitensystem, welches Naturphänomene statt Individuen als Ausgangswert heranzieht, frei von unterdrückenden Kräften
ist. So führt zum Beispiel die Vermessung und Klassifizierung menschlicher Körper zur Herausbildung von sozialen, medizinischen oder ökonomischen Normen, die eine relevante Auswirkung haben.
In einem kurzen Beitrag »Normale/anormale Körper« stellt Maren Wehrle die Frage, inwieweit Anormalität aus einer Dritt-Personen-Perspektive der Statistik bestimmt wird. Nach Ian Hacking sei
Normalität (13) ein Konzept, welches mit dem Aufkommen der Statistik im 19. Jahrhundert – insbesondere in Bezug auf Vermessung körperlicher Eigenschaften innerhalb einer Population und das
Festlegen einer Normalverteilung – verknüpft werden kann, so Wehrle.(14) Der Body-Mass-Index sei ein bezeichnendes Beispiel für die statistische Normalität, da der Körpermaßindex das Prinzip
der Gauß’schen Normalkurve umkehre und ausgehend von wenigen, unterschiedlichen Körpern die Repräsentation des Durchschnittskörpers berechne, anstatt viele Körper zu vermessen, um einen einen
tatsächlichen Durchschnitt abzubilden.(15) Die Ausführung kann mit Vincent subsumiert werden: »[...] measurement has left its mark on us all.«(16) In den performativen Arbeiten Moritas, die
in Form von installativen Dokumentationen ihren Weg in die Ausstellung finden, wird der individuelle Körper zum Bezugspunkt des eigenen Schaffens. Angesichts der Geschichte von Meßtechniken
wird der Körper des Künstlers in »Follow the way« (2022) zum subversiven Werkzeug im metrischen Einheitensystem, bei der Vermessung des urbanen Raumes. Durch die Betonung der individuellen
Präsenz wird der Körper in der partizipativen Arbeit »Gift Shop« (2022) wiederum zum Zeitmesser selbst. Indem ein T-Shirt mit dem Aufdruck Hier steht erworben und mit den eigenen Namen
vervollständigt werden kann, wird nicht nur die Anwesenheit verbalisiert, sondern die Existenz, Identität und die subjektive Realität eines jeden manifestiert. Mit dem gleichen Mittel schafft
es Morita in »Hier steht „ "« (2022), in der einer Plastik im öffentlichen Raum ein Einheits-Shirt übergestülpt wird, darauf hinzuweisen, dass die Künstler und ihre Körperdarstellungen sich
seit jeher der Norm verweigert und sich nicht in Einheitsgrößen und normative Vorstellungen einzwängen lassen.
1. Siehe: https://www.dwds.de/wb/anwesend und https://www.dwds.de/wb/etymwb/Wesen. 2. Das Phänomen kann gut mit dem Barthes‘schen so-da-gewesen vermittelt werden. Bei Barthes heißt es in Die
helle Kammer zwar wortwörtlich es-ist-so-gewesen, darin liegt allerdings ein Trugschluss, denn als Betrachter:innen eines analogen Bildes können wir nicht wissen, wie es gewesen ist. Mit
Sicherheit können wir aber sagen, dass es so-da-gewesen ist. Diese Verbindung und diese Behauptung ist ein Faktum.3. Die Überlegungen sind keineswegs kulturpessimistische Anklage angesicht
eines vermeintlichen Verlustes der Spurenmedien o. ä. 4. Siehe: Sampson, Philip J. Die Repräsentationen des Körpers. In: Florian, Rötzer (Hg.). Kunstforum: Die Zukunft des Körpers I, Bd. 132,
1995. S. 103, Z. 38 ff. 5. Siehe: Sampson, 1995. S. 106 ff. 6. Siehe: Sampson, 1995. S. 95 f. 7. Sampson, 1995. S. 99, Z. 10 ff. 8. Siehe: Ebd. 9. Siehe:
https://www.unrealengine.com/en-US/metahuman. 10.Siehe: Vincent, James. Beyond Measure: The Hidden History of Measurement. Faber & Faber, Vereinigtes Königreich, 2022. S.9. 11. Siehe:
Vincent, 2022. S.24 ff. 12. Siehe: Vincent, 2022. S.29. 13. Normalität nach Husserl kann als Einstimmigkeit, Typik oder Regelhaftigkeit fixiert werden. Wogegen Anomalität als
Abweichung/Störung der Norm zu definieren ist (Siehe: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Wissenschaftliche
Buchgesellschaft Darmstadt, Bd.6, 1984. S. 930). 14. Siehe: Wehrle, Maren. Normale/anormale Körper. In: Wilm, Heidi; Unterthurner, Gerhard; Storck, Timo; Kadi, Ulrike; Boelderl, Artur R.
(Hg.). Körperglossar. Verlag Turia + Kant Wien, 2021 S. 102. 15. Siehe: Wehrle, 2021. S. 102. 6. Siehe: Vincent, 2022. S.35. April, 2023 Mateusz Dworczyk